Förderkonzept: Sprache

Von der Schaffung von Verständigungsgrundlagen

Wo geh’se? - Ich geh' Mensa!


Einleitung
Was für den einen eine klare Antwort auf eine ebenso klar gestellte Frage ist, hört sich für muttersprachlich erfahrene Sprecher der deutschen Sprache eher abenteuerlich, wenn nicht bedrohlich an. Die Schule hat die Aufgabe, sich dieser sprachlichen Realität zu stellen, indem sie nicht nur ein Konzept für die Entwicklung der Verständigungsgrundlagen ihrer Schülerinnen und Schüler schafft, sondern auch die erfolgreiche Umsetzung dieses Konzepts betreibt.

Sprache
"Von der Umgangssprache zur alltagstauglichen Sprache" lautet ein von uns für wichtig erachtetes zentrales Prinzip, durch das die Voraussetzung bei der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern geschaffen wird, überhaupt in wesentliche Bestandteile der Standardsprache einsteigen zu können. Zentrale Kategorie ist dabei die
Verfügbarkeit sprachlicher Mittel.

An der Basis unseres Konzepts steht eine wichtige Einsicht: "Wir schaffen es nicht, die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler direkt von der Umgangssprache zur Standardsprache zu führen.“

Unter  alltagstauglicher Sprache wird eine flüssige, angemessene sprachliche Verständigung verstanden, die als Basis für die Entwicklung der sehr viel komplexeren schulfachlichen Sprache betrachtet wird. Sie ist somit Hauptgegenstand unseres Konzepts der Sprachförderung. Hier befinden wir uns im Experimentierstadium, bei dem die Erkenntnisse der Neurowissenschaften einfließen und die Entwicklung des Konzepts mitbestimmen.

Wissenschaft
Wenn wir die Ergebnisse der Hirnforschung ernst nehmen, dann unterscheiden sich die Schülerinnen und Schüler in Punkto Sprachkompetenz in den potentiell zur Verfügung stehenden synaptischen Knotenpunkten, abhängig davon, welche Anregungen sie während ihrer Sprachentwicklung erhalten haben. Das Potential an sprachlichen Verknüpfungsmöglichkeiten im Gehirn muss daher auf dem Weg zur Erlangung einer ausdifferenzierten Standardsprache im Unterricht geschaffen, ja geradezu erweckt werden. Dazu ist die klassische Rechtschreibprüfung mit ihrer Rotstiftkorrektur sicher nicht der Erfolg versprechende Weg, ebenso wenig wie die hohen Erwartungen an  die sprachlichen Voraussetzungen, die unsere Schüler, ob mit oder ohne Migrationshintergrund mitbringen.

Ressourcen
Wenn man berücksichtigt, dass der Spracherwerb bis vor der Pubertät mit etwa 12 Jahren abgeschlossen ist - zumindest was den Erwerb der Sprachstruktur bzw. des Systems Sprache angeht - dann wird deutlich, warum sich das Förderkonzept des Faches Sprache an unserer Schule auf die Jahrgänge 5 und 6 konzentriert. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen summieren sich auf 100 Unterrichtsstunden, die in Lerngruppen mit einer maximalen Größe von 10 Schülerinnen und Schülern erteilt werden. Jede Klasse wird in drei kleine Gruppen geteilt und ist mit jeweils zwei Wochenstunden am "Abenteuer Sprache" beteiligt. Der Umfang entspricht vier LehrerInnenstellen, die speziell zur Integrationshilfe bereitgestellt werden. Eines wird ebenfalls deutlich:


Alle Schülerinnen und Schüler werden gefördert.


Ab dem 12. Lebensjahr gibt es dennoch weitere Möglichkeiten der Förderung, nur sollten dabei andere Lernwege bestritten werden. Deswegen haben wir unser Konzept weiterentwickelt und bieten auch im 7. Schuljahr jedem Schüler die Möglichkeit einer sprachlichen Förderung an. In jeder Klasse des 7. Jahrgangs wird ein Fach (Gesellschaftslehre, Mathematik oder Naturwissenschaften) zweistündig von einem zweiten Lehrer, welcher besonders im Bereich Sprache fortgebildet ist, unterstützt. Die Schüler und Schülerinnen sollen im Rahmen dieser Förderung die Möglichkeit erhalten durch konkrete Hilfestellungen Kompetenzen zu erlernen, die es ihnen ermöglichen, die jeweilige Fachsprache besser zu erlernen und anzuwenden.


Heterogenität
Die Zusammensetzung der Lerngruppen ist für uns wesentlich. Erkenntnisse über den Sprachstand der Schülerinnen und Schüler gewinnen wir mit dem Duisburger Sprachstandstest, einem Test-Verfahren, das zu Beginn des 5. und des 6. Jahrgangs für alle Schülerinnen durchgeführt wird. Die Ergebnisse liefern Anhaltspunkte über den Sprachentwicklungsstand und dienen damit der Herstellung von möglichst "farbigen" Lerngruppen. Die Heterogenität von Lerngruppen, also die möglichst vielfältige Zusammensetzung, was die Erfahrung, Konzentrationsfähigkeit,  Leistung und andere Kriterien angeht, wird gerade seit PISA immer wieder heiß diskutiert. Unsere bisherigen eigenen Erfahrungen unterstreichen die Empfehlung, Heterogenität als Chance zu nutzen. Wir setzen die Gruppen im Fach Sprache unter Berücksichtigung der Kriterien: Migration, Geschlecht, Sprachstand zusammen und stellen damit bewusst inhomogene Lerngruppen her.

Kompetenzen und Indikatoren
Die vier Ebenen der Sprachförderung

  1. Hörverstehen
  2. Leseverstehen
  3. Sprechen
  4. Schreiben

beschreiben Kompetenzbereiche, für die spezielle Indikatoren eine Einschätzung der zweijährigen Entwicklung möglich machen sollen. Hier stellen wir die Frage: "Woran kann man am Ende des 6. Schuljahres einschätzen, inwiefern sich die sprachlichen Mittel entwickelt haben und für die Schülerinnen und Schüler verfügbar sind?" Eine vertiefende Einsicht in die theoretischen Überlegungen zu den Indikatoren gibt es hier.

Arbeitsweise
In der konkreten  Unterrichtsarbeit wird immer an den vier Kompetenzbereichen gearbeitet.  Unverzichtbar ist in jedem Fall die Aktivierung des Vorwissens der Schüler und die kontrastive Vermittlung von Sachverhalten. Je nach Text können dann Lesen und Vortragsweisen, Wortschatzübungen, Rechtschreibung oder Zusammenfügen von Textbausteinen, Hörübungen  etc im Vordergrund stehen.

Ein wichtiges Prinzip zum Verständnis der Arbeitsweise ist:

 

Jeder Text ist Material für den Unterricht!


Aktivierung von Vorwissen

Was heißt das? Wenn ein Text neu bearbeitet werden soll, ist jeder einzelne Begriff eines beliebigen Textes Ausgangspunkt für die Aktivierung von Vorwissen. Mit der Aktivierung von Vorwissen ist nicht die kurze Motivationsphase gemeint, sondern das Nachgehen, das Verfolgen von Assoziationen zu Begriffen und dem sprachlich individuell repräsentierten Erfahrungswissen, das die Schülerinnen und Schüler einerseits mitbringen, andererseits gerade durch die Reflexionsprozesse in der Lerngruppe gegenseitig hervorbringen.

Hierbei sind insbesondere auch die Dinge interessant, die auf der Zunge liegen und die nicht unmittelbar sofort versprachlicht werden können. Indem sie diesen Phänomenen nachgehen, entdecken die Schülerinnen und Schüler den Gehalt von Begriffen, deren Bedeutung, deren Tragweite, deren Herkunft. Sie erleben die Tiefe, die Vielgestaltigkeit von Sprache. Wenn die Schülerinnen und Schüler ihr Weltwissen zu den Wörtern eines Textes formulieren und den Begriffen nachgehen, handeln sie mit Sprache. Bei dieser Arbeit geht es also um die Aktivierung, die Formulierung und die Erweiterung des Vorwissens und des Weltwissens der Schülerinnen und Schüler.

Lesen und Vortragsweisen
Das Lesen und die unterschiedlichen Arten von Vortragsweisen bilden einen weiteren Bereich der Arbeitsweise. Die Präsentation von allen denkbaren Dingen, deren Vermittlung über Sprache funktioniert, können hier zum Gegenstand werden. "Mönchsgänge" und andere Szenarios des Einübens und Vertiefens von Präsentationsvorbereitungen gehören in diese Kategorie.

Exkurse - Kontrastives Lernen

Exkurse, bei denen kontrastiv gelernt wird, zielen darauf ab, Respekt vor anderen Kulturen zu gewinnen. Ein Beispiel:  Türkische Schüler verlassen den Klassenraum bevor sie sich die Nase putzen, da diese Handlung in Gegenwart anderer unter ihnen verpönt ist. Ein Kontrast, der den Titel dieses Artikels verständlich werden lässt, ist die Tatsache, dass die türkische Sprache keine Artikel (Begleiter) kennt und wenige Präpositionen, die zum Teil an Substantive angehängt werden. Wer diesen Umstand berücksichtigt, der muss angesichts des Titels: „Wo geh’se? - Ich geh' Mensa!" zu neuen Einsichten kommen. Werden diese Kontraste formuliert, dann sind wir bei der Schaffung von Verständigungsgrundlagen angekommen.

Rechtschreibung
Der Begriff Rechtschreibung hat Signalcharakter. Von den Einen geliebt, von den Anderen gefürchtet, birgt sie viele Phänomene, die interessant sind und denen es nachzugehen sich lohnt; ein Beispiel ist die Konsonantenverdopplung, über deren Erforschung im Unterricht nicht nur die Entwicklungsfähigkeit von Sprache erfasst werden kann, sondern über das Auffinden dieser Phänomene in der Alltagssprache die Überzeugung heranreift: "Ich kenne schon viel in dieser Sprache!".  So genannte "Schleichdiktate", die den Einfluss von Bewegung beim Lernen berücksichtigen, gehören ebenso dazu wie das Abschreiben. Allerdings ist richtiges Abschreiben nur ein kleiner Teil auf dem Weg zur Standardsprache und bei der Einschätzung, inwieweit die Schülerinnen und Schüler über sprachliche Mittel verfügen.

Ziel

Letztendlich sollen alle im Unterricht des Faches Sprache erworbenen Kompetenzen dazu dienen, dass die Schüler und Schülerinnen jedem Fachunterricht folgen, ihn mitgestalten, und die jeweilige Fachsprache anwenden können.


Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler mit unserer Unterstützung:

  • spüren, was sie mit Sprache alles machen können
  • den Spaß daran zu entdecken, mit Sprache umzugehen
  • den Ehrgeiz zu entwickeln: "Ich möchte das, was ich mit allen Sinnen erfassen kann, ausdrücken können!"


Stü/Ans/Gre 08/2012 - zum MSM Förderkonzept Sprache