Gedenkfeier

Schülerinnen und Schüler der MSM gestalten Feier bei der Bezirksvertretung Wattenscheid



Die diesjährige Gedenkveranstaltung der Bezirksvertretung Wattenscheid zur Reichsprogromnacht vom 09. November 1938 wurde von Schülerinnen und Schülern unserer Schule gestaltet.
Nach einer musikalischen Eröffnung des Liedes "Meisje uit Frankfurt", das der niederländische Liedermacher Jean Van Adorp geschrieben hat, verlas  Rebekka Röslert ein Zitat von Sebastian Haffner:

"Geschichte stirbt nicht in Archiven und Sarkophagen;
man kann sie nicht als Asche in alle Winde verstreuen;
sie bleibt anwesend;
sie ist nicht der rasante Fortschritt;
der uns weiterbringt;
sondern der rasende Schrecken der uns einholt.

Geschichte ist ein Tod, der verführerisch mit Geburtsstunden prahlt".


In professioneller Manier wurde das Programm von Dennis Kröger moderiert. Bezirksbürgermeister Hans Balbach begrüßte die Anwesenden und erinnerte in seiner Ansprache, daran, aus der Geschichte zu lernen und nicht wegzuschauen, wenn Menschen drangsaliert und Menschenrechte verletzt werden.

In einer Textcollage stellten Dalyn Godoy Vidal, Esma Sezer und Marie Friedrich aus zeitgenössischen Zeitungsberichten, Augenzeugenaussagen und Gerichtsprotokollen verschiedene Perspektiven der Reichspogromnacht dar. Einerseits verdeutlichten die Zeitungsartikel die erzeugte Pogromstimmung, die Anstachelung zu vermeintlicher Vergeltung und Rache an den Juden durch das Regime und die linientreue Presse.

Es wurde aber auch die Empörung eines Feuerwehrmannes deutlich, der zum Brand der Synagoge gerufen nicht löschen durfte. Er sagte später vor Gericht aus, dass die SS den Brand selbst gelegt und die Feuerwehr am Löschen hinderte ja sogar den Brand noch durch Benzin beschleunigte. Es wirkte auf die Anwesenden beschämend, wie ein Verantwortlicher für die Taten in der Reichspogromnacht versuchte, sich herauszureden. Acht Jahre später lehnte er in einem Gerichtsprozess jede Verantwortung ab, gab sich unwissend und stellte eine von staatlichen Stellen organisierte Tat in Abrede.

In ihren Grußworten und Ansprachen erinnerten Dr. Michael Rosenkranz, Prost Werner Plantzen und Pfarrerin Monika Vogt an die persönliche Schuld der Menschen, die damals die Dinge geschehen ließen, die schwiegen, sich dem Terror nicht entgegenstellten und Zivilcourage vermissen ließen.
David Runge sang zwei Lieder in jiddischer Sprache von jiddisch-polnischen Dichtern, die selbst Opfer der Shoah wurden. Das Lied "Dos Kelbl" von Itschak Katsenelson beklagt die Ausweglosigkeit der Verfolgung, wohingegen in dem Lied "Still di Nacht" von Hirsch Klik die Geschichte einer jungen jüdischen Widerstandskämpferin erzählt wird. 

Akim Urmoneit und Jacqueline Scherer trugen mit "Wink über das Aschenfeld - an Günther Anders" und "Anus Mundi" zwei Gedichte aus dem Gedichtszyklus "Wink über das Aschenfeld - Auschwitzgedichte" von Anna Maria Fabian vor. In einem dieser Gedichte wird auch der Name von Dr. Johann Paul Kremer erwähnt, jenem KZ-Arzt, der in Auschwitz Tagebuch führte und nach dem Krieg so verbissen um seine Pension als Universitätsprofessor stritt.

Kremer war es, der am 31.08.1942 dem Standesbeamten in Auschwitz den Tod von Betti Hartmann mitteilte. Betti Hartmann war eine Wattenscheider Jüdin, die erst 15 Jahre alt war, als sie in Auschwitz starb. Als Todesursache gab Kremer "Influenza" an.
Dr. Johann Paul Kremer war als Chirurg KZ-Arzt in Auschwitz, der dort an den Gefangenen Experimente durchführte, genau so wie der bekanntere KZ-Arzt Josef Mengele.
Schüler/innen der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule und der Märkischen Schule forschten auf ihrer gemeinsamen Fahrt nach Auschwitz im Jahr 2011 nach den Wattenscheider Juden, die in Auschwitz ermordet wurden. Dabei stießen sie auf das Tagebuch von Kremer. An dem Tag, als Betti Hartmann aus Wattenscheid sterben musste, schrieb Kremer in sein Tagebuch:

 „Tropenklima bei 38 Grad im Schatten, Staub und unzählige Fliegen! Verpflegung im Führerheim ausgezeichnet. Heute Abend gabs z.B. saure Entenleber für 0,40 RM, dazu gefüllte Tomaten, Tomatensalat usw. Wasser ist verseucht, dafür trinkt man Selterswasser das unentgeltlich verabfolgt wird (Mattoni)…".

An einem Ort wie die Hölle an dem die Menschen "wie die Fliegen" starben galt ein Menschenleben nicht. Nur die eigenen persönlichen Erschwernisse aber auch seine Gaumengenüsse waren für diesen "Arzt ohne Menschlichkeit" (Anna Maria Fabian) erwähnenswert.

Als Vertreter des Arbeitskreises Solidarität wies Hans Jürgen Müller in seiner eindrucksvollen Rede auf die Gründung des Bündnisses gegen rechts vor zwanzig Jahren hin. Damals, so Müller, gab es hier in Wattenscheid eine richtige Terrortruppe, die Menschen einschüchtere, bedrohte und auch nicht vor Gewalt zurückschreckte. In seiner Rede verdeutlichte Hans Jürgen Müller, dass das biedere Auftreten der NPD und das brutale Auftreten der neonazistischen Gruppen auf der Straße zusammengehören und dies die beiden Seiten einer Medaille sind. Der Redner ermutige die Anwesenden Rassismus und Menschenverachtung entgegenzutreten.

Den Zusammenhang zwischen dem Gedenkanlass und der aktuellen Situation in Deutschland stellten am Ende der Rede auch die elf Schüler/innen her, die untermalt von der Musik "The End" von The Doors Plakate mit den NSU-Mordopfern in den Veranstaltungsraum trugen. Für jedes Mordopfer hatten die Schüler/innen ein weißes Plakat erstellt, auf dem der Ermordete mit Bild, Namen und Todesdatum zu sehen war. Die drei mutmaßlichen Täter zeigten die Schüler/innen auf einem grauen Plakat, auf dem diese auf dem Kopf stehend zu sehen waren. Dies war sicherlich, wie viele Teilnehmer später bekundeten, der emotionalste Moment der Feier.

Die Schülerinnen Kim-Laura Wilkerson, Piroz Ileri und Charlotte Couturier stellten dann in einer Präsentation eindrucksvoll ihre umfassenden Rechercheergebnisse als Stolpersteinpatinnen für Elise Spiero vor, für die der Stolperstein am 21. September auf dem Alten Markt verlegt worden ist.
Esma Sezer rezitierte zum Abschluss das Gedicht "Was es heißt" von Irena Bondas. Die Autorin fragt in dem Gedicht Gedicht nach der Identität junger jüdischer Einwanderer und den Umgang mit Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland heute.

Das jüdische Leben in Deutschland, die deutsch-jüdische Kultur und die Traditionen wurden von den Nationalsozialisten unwiederbringlich ausgelöscht. Jüdisches Leben in Deutschland heute, so verdeutlichte es Dennis Kröger noch einmal, ist ein Ergebnis von Antisemitismus anderenorts und daher für die deutsche Gesellschaft der Auftrag, diesen eingewanderten Menschen eine neue Heimat zu geben.

Martin Breuer