Das schweigende Klassenzimmer

Wie eine Schulklasse vom Abitur ausgeschlossen wurde

Fünf Minuten, die sein Leben grundlegend verändern sollten. Darüber berichtete Dietrich Garstka, der 1956 im märkisch-brandenburgischen Storkow  in der DDR die 12. Klasse der Oberschule besuchte. Gebannt hörten Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 13 an unserer Schule den Ausführungen Dietrich Garstkas zu, der damals etwa so alt war, wie seine Zuhörer/innen heute.



Den 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung hat das Internationale Begegnungs- und Bildungswerk (IBB) in Dortmund zum Anlass genommen, Zeitzeugen aus der ehemaligen DDR in Schulen zu schicken, damit die Schüler/innen aus erster Hand Informationen über das Leben in der DDR hören können. Einer dieser Zeitzeugen ist Dietrich Garstka, der unsere am 06. Oktober 2010 besuchte.

Eindrucksvoll schilderte Garstka, wie er und seine 15 Mitschüler mit dem Aufstand der Ungarn im Oktober 1956 sympathisierten und, obwohl es verboten war, heimlich Westsender (RIAS) hörten, um über die Ereignisse in Budapest informiert zu sein. Die DDR-Medien schwiegen über den Aufstand selbstverständlich. Im RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) wurde auch von Schweigeminuten für die Toten des Aufstandes berichtet.

Spontan entschlossen sich die jungen Leute der 12. Klasse, zu Beginn der nächsten Unterrichtsstunde für fünf Minuten zu schweigen, um der Opfer in Ungarn zu gedenken. Also schwieg die ganze Klasse in den ersten fünf Minuten des Unterrichts und brachte damit ihren Lehrer fast zur Verzweiflung. Dieser war über den Schweigegrund nicht informiert und neben seiner Tätigkeit als Geschichtslehrer auch noch FDJ-Sekretär in Storkow. Auch die sich tags darauf anschließende Schweigeminute auf dem Schulhof für Ferenc Puskas, dem großen Fußball-Idol der fünfziger Jahre, der angeblich beim Aufstand der Ungarn "gefallen" sein soll, blieb nicht unbeobachtet. Partei und Staat nahmen sich nun dieser "politischen Verschwörung" und der "konterrevolutionären Kräfte" an. Einzelgespräche, Verhöre, Erpressungen, Beleidigungen und Schikanen führten nicht dazu, dass sie Solidarität und Kameradschaft der Schüler gebrochen wurde. Dem System gelang es nicht, die angeblichen Rädelsführer dieser "konterrevolutionären Aktion" zu ermitteln, obwohl sich der Minister für Volksbildung, Fritz Lange persönlich in die Untersuchungen einschaltete. Was in einem kleinen Kreis als spontan durchgeführte Aktion begann "Wir trauern um Ferenc Puskas", endete für die jungen Menschen in Storkow schließlich mit dem Ausschluss von der kurz bevorstehenden Abiturprüfung und dem Rauswurf von der Schule.

Fast alle Mitglieder der Klasse flüchteten während der Weihnachtsfeiertage 1956 nach West-Berlin. Durch die Flucht wurden die westdeutschen Medien auf den Vorfall aufmerksam. Das "schweigende Klassenzimmer" wurde für die DDR zum Skandal. Noch im Westen werden die jungen Leute von der Stasi bespitzelt und mit Versprechungen und der Zusicherung von Straffreiheit zur Rückkehr in die DDR gelockt. Als dies nicht gelang, wurde die Akte von der Staatssicherheit geschlossen und der Vorfall totgeschwiegen.



Dietrich Garstka hat seine Erlebnisse in dem autobiografischen Roman "Das schweigende Klassenzimmer" niedergeschrieben. Er legt großen Wert darauf, dass seine Leser/innen wissen, dass alle geschilderten Ereignisse so geschehen und alle im Buch genannten Namen echt sind.
Dennoch verzichtete Dietrich Garstka darauf, aus seinem Buch vorzulesen, denn Garstkas Qualitäten als Erzähler und Berichterstatter sind exzellent und überzeugten die Anwesenden.

Vielmehr schilderte er den Schüler/innen sehr authentisch, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben und woran er bereits als junger Mensch erkennen konnte, dass er in der DDR in einer Diktatur lebte. In seinem Fall hat die DDR-Führung ein Exempel statuiert. "Man stand ständig unter Beobachtung". "Dumme-Jungen-Streiche"  gab es nicht. Abweichende Meinungen wurden nicht toleriert. Alles war politisch, Diskussionen waren aber nicht gewollt. Wer die "Arbeiter-und-Bauern-Macht" nicht vorbehaltlos bejahte, gehörte nicht dazu und konnte in diesem Staat keine leitenden Funktionen übernehmen.

Heute ist Dietrich Garstka darüber betrübt, dass mehr als fünfzig Jahre nach dem Rauswurf in Storkow das Totschweigen über die alten "Seilschaften" immer noch funktioniert. Kaum jemand in dem 5.000 Einwohner Städtchen weiß von diesem traurigen Kapitel der Stadtgeschichte, dass hier eine ganze Schulkasse vom Abitur ausgeschlossen und danach "republikflüchtig" geworden ist. Alte Parteikader, heute in anderen Funktionen, haben immer noch ein Interesse daran, das geschehene Unrecht vergessen zu machen. Als sich alle "Rausgeworfenen" zu ihrem 40. Jahrestag in Storkow wieder trafen, war niemand dort, der sie offiziell im Namen der Stadt begrüßte. „Hier gibt es noch zwanzig Jahre nach der Einheit einiges aufzuarbeiten“, meint Garstka.

Nachdem er nach mehr als vierzig Jahren seinen alten Schulleiter und Geschichtslehrer wieder getroffen hat, wurde ihm bewusst, dass in Wirklichkeit nicht die Jugendlichen für ihre Standhaftigkeit bestraft wurden, sondern vielmehr diejenigen, die mit ihrem Druck auf die Jugendlichen gescheitet sind. "Wir haben die DDR verlassen und konnten dann unser Leben frei gestalten, wir sind nicht wirklich bestraft worden".

Was bleibt vom Besuch Dietrich Garstkas? Wir als Geschichtslehrer/in sind sicher, dass unseren Schülern und Schülerinnen ein Stück DDR-Realität unvergesslich geworden ist und ihnen bewusster ist, welche Vorzüge das Leben in einer demokratischen Gesellschaft bietet.
Es sind oft die unspektakulären und schlichten Auftritte, die die Geschichte lebendig halten. Es ist, wie Dietrich Garstka es selbst formulierte: „Als hättet ihr ein Geschichtsbuch aufgeschlagen und ich habe meinen Kopf zwischen die Seiten gehalten“.

Andrea Bugs-Schwill  - Martin Breuer