Unterrichtsprojekte
Kopplung: Leistungskurs Deutsch & Grundkurs Psychologie


 KASSANDRA 
Eine (Neu-)Erzählung




Inhaltsverzeichnis 


Vorwort
Kapitel I 
Kapitel II 
Kapitel III
Ende

 






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Text: Martin Obalek, André Wichmann, Oliver Reiter,
 Sylvia Römer, Kevin Cousen,  Sascha Schmitz,
Patrik Rohrand, Nadja Callies
Illustrationen: Alexandra Plaszczyk, Nadja Vahrenholt,
 Gülden Özsahin, Barbara Siebert
Drucklayout: Alexander Meinhardt, Thorsten Lattoch,
Cetin Sen
Beraterinnen: Claudia Schmidt, Lisa Quinkert und
                       Kira Alsleben

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Vorwort

Liebe Schülerinnnen und Schüler!

Wir, die Teilnehmer der Kurskopplung Deutsch und Psychologie im 12. Jahrgang, haben für Euch eine Erzählung geschrieben, die auf einer Geschichte der Antike beruht. Es geht dort um die trojanische Königstochter Kassandra, die die Zukunft, den Untergang Trojas, vorhersehen konnte. Doch die Sehergabe war durch den Gott Apollon mit einem Fluch belegt: Niemand glaubte ihr.

Kassandra verlebt eine unbeschwerte Kindheit am Königshof ihres Vaters Priamos. Sie wird Priesterin und versucht, sich in dieser Position Einfluß und Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Doch auch in ihrer Rolle als Priesterin glaubt ihr niemand. So stürzt die Stadt Troja in einen vernichtenden Krieg mit den Griechen. Kurz vor Ende dieses Krieges verläßt Kassandra die Stadt und lebt fortan in einer hauptsächlich von Frauen bewohnten Gemeinschaft am nahegelegenen Fluß Skamandar. Dort lernt sie, wie man menschliches Zusammenleben ohne Gewalt und Intrigen in einer freien und selbstbestimmten Gemeinschaft organisieren kann. Als der Trojanische Krieg verloren ist, wird Kassandra von den gegnerischen Griechen gefangen genommen und später in Mykene ermordet.

Ihr werdet es kaum glauben, aber uns ist das Verständnis der Erzählung Kassandra von Christa Wolf aufgrund der vielen unbekannten Namen und Personen sehr schwergefallen. Doch als wir uns einmal eingearbeitet hatten, fanden wir die Figur Kassandra äußerst faszinierend. Wir haben deshalb versucht, diesen Text für Euch leichter verständlich zu machen, indem wir ihn vereinfacht und in die heutige Zeit übertragen haben. Wir hoffen, daß Euch unsere Version gefällt und daß Ihr es später leichter habt , den Originaltext aus der Ilias von Homer und seine Bearbeitung, die Erzählung Kassandra von Christa Wolf, zu verstehen.

Viel Spaß und Erfolg bei Eurer Arbeit im Unterricht wünschen Euch

Euer LK-Deutsch & GK-Psycho 12/2.                                                           Inhaltsverzeichnis   Weiter



Bochum, im Juni 1997

 


Kapitel I

Es war einmal ... War es gestern? Oder war es vorgestern? Oder war es vor einem Jahr? Oder ... vor langer, langer Zeit? Es könnte eigentlich immer geschehen!

Kassandra, die Tochter des erfolgreichen Richters Priamos, der durch seine überaus faire Rechtsprechung in der Gesellschaft hoch angesehen und von den Medien vielfach gelobt wurde, hatte eine wunderschöne Kindheit. Sie war immer schon das Lieblingskind ihres Vaters Priamos und wurde von diesem oft sogar der Ehegattin vorgezogen. Der Richter verbrachte einen großen Teil seiner wohlverdienten Freizeit mit seiner Lieblingstochter.

Sie gingen gemeinsam ins Kino, machten regelmäßig Wochenendausflüge an die schönsten Orte und bummelten gerne durch die Stadt. In einem Sommer verbrachte der Richter sogar eine Woche seines Urlaubs mit Kassandra im Euro-Disney-Resort bei Paris.

Neben diesen zahlreichen gemeinsamen Freizeitaktivitäten nahm Priamos seine Tochter oft zu seinem Arbeitsplatz, dem Amtsgericht in Bochum, mit. Diese Besuche erregten Kassandras Interesse. Schon damals wurde ihr klar, daß sie einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten und einen Beruf am Gericht ausüben wollte. Auch in der Pubertät veränderte sich ihr Berufsziel nicht. Während andere Mädchen ihr Leben der BRAVO oder anderen Zeitgeist-Zeitschriften widmeten und sich dort Musik, Mode und Liebestips holten, verschlang Kassandra lieber den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ihr war klar, daß sie sich auch beruflich von anderen Mädchen ihrer Generation abheben wollte. Später war Kassandra immer gut in der Schule und bestand ihr Abitur mit dem Notendurchschnitt 1,1. Später fing sie an, Jura zu studieren, und sie war von diesem Fach wirklich hellauf begeistert.



In ihrem Semester war jedoch einer, den sie absolut nicht leiden konnte: Er hieß Eumelos. Dieser schleimte sich bei allen Leuten ein und wußte immer alles besser. Mit seinen miesen und hinterhältigen Tricks versuchte er, überall Vorteile für sich herauszuschinden. In den Pausen redete er unablässig auf seine Dozenten ein und bemühte sich, andere Studenten - unter anderen auch Kassandra - bei diesen madig zu machen. Man sagte sogar, daß er versucht haben sollte, seinen Prüfer zu bestechen, indem er einen Scheck in seine Staatsarbeit hineinlegte. Doch trotz der Machenschaften des Eumelos bestand Kassandra das Studium mit Bravour und ihr Vater freute sich sehr darüber.

So wurde sie Rechtsanwältin und hatte oft im Gericht zu tun. Ihre ersten Fälle meisterte Kassandra gut und bekam tolle Kritiken.

Bei ihrer Arbeit am Gericht schaute sie sich viele Verhaltensweisen und Taktiken von ihren männlichen Kollegen ab, da sie bemerkte, daß männliche Züge in diesem Beruf von Vorteil sind. Z. B. versuchte sie immer häufiger, die gegnerischen Zeugen durch gezielte Verwirrungsstrategien, wie Beleidigungen, Einschüchterungen und Verdrehungen der Aussagen aus dem Konzept zu bringen. Sie versuchte, jeden Prozeß zu ihren Gunsten zu entscheiden, auch wenn sie sich der Schuldigkeit ihrer Klienten bewußt war. Kassandra wollte einfach erfolgreich sein.



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Kapitel II

Mit der unbestimmten Vorahnung, daß heute etwas Besonderes passieren würde, betrat Kassandra das Kanzleigebäude. In der Nacht hatte sie einen seltsamen Traum, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Sie war mehrmals schreiend aufgewacht. Kassandra träumte von einem Schiff, welches einen Mann über glattes, blaues Wasser von einer Küste wegführte. Ebenso sah sie eine ungeheure Feuerwand, die sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen Wegfahrenden und Daheimgebliebenen bedrohlich aufrichtete. Das Meer brannte ...

Während sie in ihrem Büro schon von einem neuen Klienten erwartet wurde, mußte sie immer wieder an diese Szene denken. Als sie ihn dann sah, pochte ihr Herz immer schneller und sie war nervös. Kassandra blickte ihm in die Augen, errötete leicht und wandte ihren Blick gleich wieder ab. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und sagte mit leiser Stimme: "Guten Tag. Ich bin ihre Rechtsanwältin. Was kann ich für Sie tun?" Aineias, so hieß der Mann, musterte sie gründlich. Auch er war ihr nicht abgeneigt, sondern fühlte sich eher zu ihr hingezogen.

Nach anfänglichen Hemmungen stellte sich im weiteren Verlauf der Gespräche heraus, daß Aineias ein Umweltaktivist von Greenpeace war. Er hatte mit anderen Aktivisten eine Bohrinsel in der Nordsee besetzt gehalten. Die Gruppe wollte auf die Machenschaften einer großen Mineralölfirma aufmerksam machen. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte die betreffende Firma Klage eingereicht.

Kassandra beschäftigte sich über ihre Arbeit in der Kanzlei hinaus mit diesem Fall. Auch zu Hause versuchte sie, sich in Aineias´ Lage zu versetzen und zu verstehen, warum er dies getan hatte. Nach längerer intensiver Zusammenarbeit bemerkten beide, daß ihre Gefühle füreinander immer stärker wurden. Für Kassandra waren diese Gefühle neu und sie fühlte zwar eine gewisse Unsicherheit, aber auch Neugier. Schon seit etlichen Tagen bemerkte sie, daß sie kaum Appetit hatte. Auch fiel ihr auf, daß sie - wenn sie an Aineias dachte - wacklige Knie und schwitzige Hände bekam.

Eines Abends verabredeten sie sich bei Aineias zu Hause.

Kassandra hatte sich extra für Aineias zurecht gemacht, um ihm besonders zu gefallen. Anieias hatte ein romantisches Abendessen vorbereitet und wollte Kassandra damit überraschen. Zuerst unterhielten sie sich über den Fall. Im Verlauf des Abends jedoch konnten sie ihre Zuneigung zueinander nicht mehr verbergen.

"Dein Kleid steht Dir besonders gut!"

"Danke für das Kompliment. Ich habe es extra für Dich angezogen, um Dir zu gefallen."

Nach einem kurzen Augenblick der Stille begann Kassandra mit ihrem Geständnis: "Schon als ich Dich das erste Mal sah, war ich von Deiner Ausstrahlung fasziniert. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick."

"Auch ich empfinde seit unserer ersten Begegnung sehr viel für Dich."

Seitdem waren sie ein glückliches Paar. Sie unternahmen viel, redeten aber auch oft über die Greenpeace-Aktion und über ihre gemeinsame Zukunft.

Als Aneias aufgrund einer geheimen Greenpeace-Aktion für kurze Zeit weg mußte, verabredeten sie sich am Abend zuvor zu einem gemeinsamen Spaziergang entlang des Kemnader Stausees.

Nach einer Weile setzten sie sich auf eine nahegelegene Mauer und schauten verträumt in den Sonnenuntergang.

Dabei legte Anieias seine Hand an Kassandras Wange. Kassandra fühlte dabei eine innere Verbundenheit, die sie vorher nicht kannte.

Bis auf die gerichtlichen Probleme von Aineias war die Welt für das glückliche Paar in Ordnung. Doch als Kassandra ihrem Vater Priamos von ihrem neuen Glück erzählte, traf es ihn wie ein Schlag. Ihr Vater war alles andere als begeistert von der Liebesbeziehung der beiden.


"Ich verstehe nicht, wie sich Deine Einstellung so ändern konnte: Einen Verbrecher zu lieben!!! So etwas werde ich nicht dulden."

"Er ist der erste Mann, den ich wirklich liebe. Seine Taten sind nicht als Verbrechen anzusehen. Er tat das, was ein anderer schon längst hätte tun müssen."

"Ein Verbrecher ist wie der andere. Verstöße gegen das Gesetz - egal, worum es sich handelt - kann man nicht rechtfertigen."

In dieser Beziehung war mit dem angesehenen Richter nicht zu spaßen.

"Aber ich liebe ihn doch so sehr!"

Kassandra und ihr Vater Priamos stritten sich eine ganze Weile. Sie warf ihm vor, eine viel zu altertümliche Einstellung zu haben, worauf ihr Vater nur noch wütender wurde. Nach einer Weile verließ Kassandra wutentbrannt den Raum. Es war das erste Mal, daß sie so etwas wie Haß für ihren Vater empfand.

Dieses Gespräch beschäftigte sie noch über die nächsten Tage. Sie dachte jedoch nicht eine Minute daran, ihren geliebten Aineas aufzugeben. So mußten sie sich heimlich treffen, um ihren Vater nicht weiter zu provozieren. Im Laufe der Zeit stellte sich Kassandra immer entschiedener auf die Seite von Aineas. Sie verstand langsam, was Aineas dazu bewegte, sich mit allen Mitteln für die Umwelt einzusetzen. Je mehr sie sich mit dem Thema auseinandersetzte, desto mehr nahm sie Aineas´ Wertvorstellungen an. Sie bemerkte dabei gar nicht, daß ihr Vater ihr immer fremder wurde.


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Kapitel III

Endlich kam es zum Tag des entscheidenden Prozesses. Ihr Gegenspieler vor Gericht war ihr alter Bekannter Eumelos. Er hatte es doch tatsächlich bis zum Staatsanwalt gebracht: So war er also der Vertreter der Anklage.

Kassandra sagte mit wachsender Besorgnis zu Aineias: "Das wird ein harter Prozess werden! Mit diesem widerlichen Typen hatte ich schon im Studium meine Probleme!"

Eumelos hatte unterdessen erfahren, daß Kassandra Aineias liebte, und er hatte auch von dem Streit zwischen Kassandra und ihrem Vater Priamos gehört. Diese Gelegenheit nutzte Eumelos schamlos aus und biederte sich immer mehr bei dem Richter an, denn er plante eine Intrige gegen Kassandra und ihren Klienten.

Als Eumelos in diesen Tagen den Richter Priamos einmal allein im Richterzimmer des Amtsgerichts vorfand, war ihm klar, daß er diese Situation ausnutzen mußte, um seine Karriere voranzutreiben und gleichzeitig Kassandras Karriere zu zerstören.

"Euer Ehren, kann ich wohl kurz mit Ihnen reden? Es geht um ihre Tochter Kassandra. Ich habe gehört, daß sie ihren Klienten, diesen Greenpeace-Aktivisten, mehr als nur vor Gericht vertritt, daß sie vielmehr auch im privaten Bereich mit ihm verkehrt. Das gefällt Ihnen wahrscheinlich gar nicht, oder? Aber ich hätte da eine Idee, Euer Ehren! Wenn wir diesen Aineias schuldig sprechen, dann wandert er hinter Gitter und Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, daß er Ihnen Ihre Tochter wegschnappt."

Der Richter dachte lange über diesen infamen Plan nach und stimmte Eumelos - wenn auch zögerlich - zu, denn er hatte große Angst, seine Lieblingstochter an diesen langhaarigen Greenpeace-Aktivisten zu verlieren. Priamos mußte über den Schatten seines eigenen Gerechtigkeitsgefühls springen ... wohl war ihm nicht dabei.

Der Prozeß selbst wurde zu einem verbalen Duell zwischen Eumelos und Kassandra, die die Klingen kreuzten. Die beiden schenkten sich nichts und benutzten alle Tricks, um sich gegenseitig bloßzustellen.

Kassandra bemerkte bald, was sie anfangs nur ahnte: Daß da irgendetwas nicht stimmen konnte, denn ihr Vater stimmte den Anträgen oder Einsprüchen des Eumelos häufig zu, selbst bei unsinnigen Teilaspekten. Desweiteren mußte Kassandra sich ständig Unhöflichkeiten, ja Beschimpfungen anhören, die ihr Gegner von sich gab. Kassandra versuchte hingegen, den Richter, ihren Vater, durch Sachlichkeit und ehrliche Argumentation zu überzeugen. Diese Strategie wirkte entspannend und beruhigend - Aineias hatte ihr dazu geraten, den geraden Weg zu gehen.

Ihr Vater jedoch war dermaßen verbittert und verbohrt hinsichtlich der Beziehung seiner Tochter, daß er sie kaum anhörte, sondern sich immer mehr von Eumelos beeinflussen ließ und eher dessen Lügen, als Kassandras Worten glaubte.

Der Höhepunkt des Prozesses war zweifellos erreicht, als Eumelos Kassandra entgegenschleuderte: "Sie, Frau Rechtsanwältin, sind ja eh nur das Liebchen ihres Klienten! Das kann ich beweisen!"

Eine lähmende Stille legte sich nach dieser Enthüllung über den Gerichtssaal; allen anwesenden Personen war klar, daß Kassandra diesen Prozeß unwiederbringlich verloren hatte.



Und so war es dann auch. Nach dem vernichtenden Urteilsspruch stürzte Kassandra völlig außer sich aus dem Gerichtssaal.

Und wie ging es weiter mit den beiden? Nachdem Aineias zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt worden war, zog Kassandra die Konsequenzen: Sie führte ihre Arbeit als Rechtsanwältin zunächst nicht weiter und versuchte ihr Leben neu zu ordnen.

Nach Aineias´ Entlassung aus der Haft lernte sie durch ihn eine Gruppe von Frauen kennen, die sich in das gesellschaftliche Leben in und um Bochum aktiv einmischten. Gemeinsam planten und führten sie Aktionen zur Erhaltung der Umwelt durch: Konsequent aber gewaltlos, das war ihr Motto. Nach kurzer Zeit hatten sie eine wachsende Anhängerzahl und eine stattliche Fangemeinde, besonders unter den Schülerinnen der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule.

Kassandra wollte übrigens ihren Vater, der sie verraten hatte, nicht wiedersehen. Er wurde weder zu ihrer Hochzeit mit Aineias, noch zur Taufe ihrer Söhne eingeladen. Kassandra und Aineias leben noch heute glücklich und zufrieden miteinander, und wenn ihr aufmerksam seid und scharf beobachtet, könnt Ihr sie vielleicht einmal treffen ...



ENDE

 









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MSM
macht Schule musisch
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zuletzt geändert am 12. September 1998
D. Anschlag
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